Wandel von Stellungskriterien


Um eine Stellung zu bewerten, können neben dem Vorhandensein konkreter taktischer Varianten verschiedene positionelle Kriterien herangezogen werden. Die wichtigsten sind:

Um eine Stellung korrekt zu beurteilen, muß man quasi per Checkliste für Weiß und Schwarz die einzelnen Merkmale abhaken und denn gegeneinander abwägen.

Das große Problem liegt in der Vergleichbarkeit der verschiedenen Kriterien. Schon für Eröffnung, Mittelspiel und Endspiel werden sie unterschiedlich gewichtet, und mit fortlaufender Partie ändert sich die Beurteilung regelmäßig. Obendrein müssen sie gesamtheitlich gesehen werden, also wie alle Kriterien in der konkreten Stellung zusammenhängen. Beispiele für entsprechende Regeln sind:

Einer der größten Fehler von Spielern besteht darin, sich krampfhaft an einem einmal erhaltenen Vorteil festzuklammern und dabei andere Kriterien zu vernachlässigen. Häufig geht er an der Möglichkeit vorüber, einen Vorteil gegen einen anderen einzutauschen, weil er den Charakter der Stellung nicht ändern will - auch aus der Erfahrung heraus, daß dies als schwächere Partei oft ein probates Mittel ist!

In den folgenden Beispielen ändert eine Partei immer bewußt den Stellungscharakter, um durch den Tausch von Vor- und Nachteilen seine Chancen zu verbessern.

(1) Beispiel 1.1: Lehmann
1957
[Gerstner]








1.Lxc6! [Weiß tauscht den starken Läufer gegen den schwächeren Springer, verschafft sich dadurch aber einen entfernten Freibauern. Ohne diesen Tausch könnte sich Schwarz noch zäh verteidigen.] 1...bxc6 2.Kf4 Kd5 [Auch andere Züge verlieren schnell: 2...Kf6 3.b4 g5+ 4.Ke4 Ke6 5.a5 bxa5 6.bxa5 Kd6 7.Kf5 Kc5 8.Kxg5 Kb5 9.Kf6 Kxa5 10.g5+-; 2...c5 3.Kg5 Kf7 4.c3 c6 5.b4 cxb4 6.cxb4 c5 7.bxc5 bxc5 8.a5 c4 9.Kf4+-] 3.Kg5 Kd4 4.Kxg6 Kc3 5.Kf5 Kxc2 6.g5 Kxb3 7.g6 c5 8.g7 c4 9.g8D 1-0

(2) Beispiel 1.2: Troitzki
1923
[Gerstner]








1.f6! [Weiß hat den aktiveren König und den starken Läufer, Schwarz hingegen einen Mehrbauern. Indem Weiß Material opfert, schränkt er die Bewegungsfähigkeit des schwarzen Läufers weiter ein. Andere Züge, die den Minusbauern zurückerobern, aber die schwarzen Figuren aktivieren lassen, reichen nicht zum Sieg: 1.Kb7? Ld8 2.Kc6 Kc2 3.Kxd6 Kb3µ; 1.Lb6? Lxb6 2.Kxb6 Kb2 3.Kxa5 Kc3 4.Kb5 d5 5.a5 d4 6.a6 d3 7.a7 d2 8.a8D d1D=] 1...gxf6 [1...g6 2.Kb7 Ld8 3.Ld4 Kd2 4.Kc8 Kd3 5.Kxd8 Kxd4 6.Ke7 d5 7.Kxf7 Ke3 8.Ke6 d4 9.f7 d3 10.f8D d2 11.Df1+-] 2.Kb7 Ld8 3.Kc8 Le7 4.Kd7 Lf8 5.Le3+ [Sobald Weiß den Materialgewinn über das aktive Figurenspiel stellt, hat er keinen Vorteil mehr: 5.Ke8? Lh6 6.Kxf7 Kb2 7.Lb6 Ld2 8.Kxf6 Kb3 9.g4 Kxa4 10.g5 Kb5 11.Ld4 Lxg5+ 12.Kxg5 Kc4=] 5...Kd1 6.Ke8 Lg7 7.Kxf7 Lh8 8.Kg8 Ke2 9.Lf4 1-0

(3) Beispiel 1.3: Gerstner,W (2400) - Naumann,A (2478) [A45]
Frankfurt, 12.09.1999
[Gerstner]

1.d4 Sf6 2.Lg5 e6 3.e4 h6 4.Lxf6 Dxf6 5.Sc3 d6 6.Dd2 g5 7.Lc4 Lg7 8.Sge2 Sc6 9.Sb5 De7 10.c3 a6 11.Sa3 Ld7 12.0-0 e5 13.Sc2 Df6? [Schwarz besitzt das Läuferpaar, dafür ist das Feld f5 sehr schwach. Weiß hat Raumvorteil am Damenflügel, Schwarz am Königsflügel. Schwarz versucht nun die Umgruppierung De7-f6-g6 und Sc6-e7, um nach der langen Rochade mit f7-f5 zum Angriff überzugehen. Wegen des folgenden weißen Manövers war jedoch besser: 13...0-0-0 14.d5 Sb8 15.Se3 h5 16.Sg3 h4 17.Sgf5 Lxf5 18.Sxf5 Df6 19.Le2²]








14.Ld5! [Eine wichtige Entscheidung: Weiß tauscht auch den zweiten Läufer gegen den Springer, erhält aber im Gegenzug ein geschlossenes Zentrum, in dem Springer mindestens gleichwertig sind, und die Kontrolle über das schwache Feld f5. Nachdem er so den schwarzen Angriff abgeblockt hat, geht er am Damenflügel zum Gegenangriff über. Ohne den Tausch kann Weiß den Voerteil nciht festhalten: 14.d5 Se7 15.Ld3 h5! 16.Se3 g4 17.Sg3 Lh6÷ und Schwarz ergreift die Initiative.] 14...0-0-0 15.Lxc6! Lxc6 16.d5 Ld7 17.Se3 h5 18.Sg3 g4 19.Sgf5 Lh6 20.Dd3 Tdg8 21.b4 h4 22.c4 g3 [22...Lxe3 23.fxe3 Tg5 (23...g3 24.h3±; 23...h3 24.g3±) 24.b5 (Nicht den wichtigen Vorposten aufgeben und für einen Bauern Angriffslinien zu öffnen: 24.Sxh4? De7 25.g3 Tgh5 26.Tf2 Txh4 27.gxh4 Dxh4 28.Tg2 g3µ) 24...a5 25.b6 Lxf5 26.exf5 cxb6 27.Tab1±] 23.fxg3 hxg3 24.hxg3 Kb8 [24...Lxe3+ 25.Dxe3 Lxf5 26.Txf5 Dg6 27.Kf2 (27.Taf1? Dxg3 28.Dxg3 Txg3 29.Txf7 Tg4 30.Te1 Thh4 31.c5 dxc5 32.bxc5 Txe4 33.Txe4 Txe4 34.c6 bxc6 35.dxc6=) 27...Th2 28.c5±] 25.Tf3 Dg5 26.Kf2 Dh5 27.a4 Lxe3+ 28.Sxe3 Lg4 29.Sxg4 Txg4 30.c5 Dg6 31.Te1 Ka7 32.a5 dxc5 33.bxc5 c6 34.d6 [34.Db1! Ka8 35.Db6 Tg8 36.Tb1 Tb8 37.Tfb3 Df6+ 38.Kg1 Tgg8 39.dxc6 Dxc6 40.Dxc6 bxc6 41.Tb6 Ka7 42.Tf1+-] 34...De6 35.Db3 Dxb3 36.Txb3 f5 37.exf5 e4 38.d7 [38.Teb1 Th7 39.Td1 Td7 40.Tb2 Tg5 41.g4 Txg4 42.Ke3+-] 38...Td8 39.Td1 Tg5 40.f6 Txc5 41.g4? [41.Ke3 Td5 42.Txd5 cxd5 43.f7 Kb8 44.Tb6 Kc7 45.Tg6 Kxd7 46.Tg8+-] 41...Tg5 42.Kg3 Tg6 43.Tf1 Tgg8 44.f7 Tgf8 45.g5 Txd7 46.g6 Td6 47.Kf4 Txg6 48.Ke5 Txg2 49.Ke6 Tg6+ 50.Ke7 Txf7+ 51.Kxf7 Th6 52.Te1 Th5 53.Txe4 Txa5 54.Te7 Tf5+ 55.Ke6 Tb5 56.Txb5 axb5 57.Ke5 Kb6 58.Kd4 c5+ 59.Kd5 b4 60.Kc4 1-0

(5) Beispiel 1.4: Gerstner,W (2402) - Naes,F (2257) [D24]
Ubeda (5), 23.01.2000
[Gerstner]

1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 Sf6 4.Sc3 a6 5.e4 b5 6.e5 Sd5 7.a4 c6 8.axb5 Sxc3 9.bxc3 cxb5 10.Sg5 Dc7 11.Df3?! [11.Sxf7? Kxf7 12.Df3+ Ke8 13.Dxa8 Lb7 14.Da7 Sc6 15.Dc5 e6-+; 11.Dh5 e6 (11...g6 12.Df3 e6 13.Sxf7 Lb7 14.Df6 Dxf7 15.Dxh8±) 12.Sxh7 Sd7 13.Sf6+ gxf6 14.Dxh8 fxe5 15.La3 exd4 16.Lxf8 Sxf8 17.Dxd4²; 11.e6 Lxe6 12.Sxe6 fxe6 13.Dg4 e5 14.De4 Sc6 15.d5 Sa5 (15...Sd8 16.Le2 Dd6 17.0-0©) 16.Le2 Sb3 17.d6 Db8 18.Lg4 exd6 19.Dc6+ Kf7 20.Dd5+=] 11...e6 12.Sxf7 [Weiß hat durch den schlechten 11. Zug das Problem, daß er einen Bauern weniger besitzt und nach Lc8-b7 auch seinen Entwicklungsvorsprung zu verlieren droht. Deshalb holt sich Weiß seinen Bauern zurück und sichert sich das Läuferpaar, während Schwarz die Initiative ergreifen kann. Im folgenden dreht es sich auch um die Frage, ob der entstehende Bd6 ein starker oder schwacher Bauer ist. Natürlich scheitert 12.Dxa8? Lb7 13.Txa6 (13.Da7 Sc6 14.Dxa6 Lxa6 15.Txa6 Db7 16.Ta1 Le7µ) 13...Lxa8 14.Txa8 Le7 15.Le2 0-0µ] 12...Lb7 [12...Dxf7? 13.Dxa8 Db7 14.Dxb7 Lxb7 15.Lxc4 bxc4 16.Tb1 Lxg2 17.Txb8+ Kf7 18.Tg1 Ld5 19.La3+-] 13.Sd6+ Lxd6 14.exd6 Df7 15.Dg3 0-0 16.Le2 Ld5 17.0-0 a5? [Dieser Zug erlaubt Weiß eine Abwicklung, die ihn aller Verlustchancen enthebt und Schwarz zu genauem Spiel zwingt. Wenn Schwarz erst seine Entwicklung beendet und danach mit den Freibauern vorstößt, ist er im Vorteil: 17...Sc6 18.La3 a5 19.Lc5 b4³]








18.Tb1! [Mit der folgenden forcierten Variante reißt Weiß wieder die Initiative an sich und aktiviert alle seine Figuren. Insbesondere der Bd6 spielt dabei eine wichtige Rolle. Schlechter wäre der Übergang in die zuvor betrachtete Variante: 18.La3? Sc6 19.Lc5 b4³ Auch Schwarz hat den Zug 18.Tb1 und die folgende Variante berechnet, bewertet die resultierenden Stellungsmerkmale jedoch anders als Weiß!] 18...b4 19.cxb4 axb4 20.Txb4 Sc6 21.Txc4! [Schwarz erwartete 21.Tb6?! Sxd4 22.Lg4 Ta1³ , und bei materiellem Gleichgewicht liegt die Initiative nach wie vor bei Schwarz. Mit dem Qualitätsopfer beseitigt Weiß erst einmal alle Verlustrisiken: Er erhält zwar nur einen Bauern, aber sein Läuferpaar in offener Stellung, der schwache Be6 und der Freibauer auf d6 sichern ihm Vorteil. Die beste Chance für Schwarz besteht im Rückopfer auf d6.] 21...Lxc4 22.Lxc4 Sxd4 [22...Ta4 23.Db3 Tb4 24.Da2 Sxd4 25.Le3 Df6 26.Td1 Sf5 27.Lxe6+ Kh8 28.Lc5±] 23.Lb2 [Auch Weiß muß genau spielen, will er seine Siegchancen aufrecht erhalten. Nach 23.De3 Sf5 24.De5 Df6 25.Lxe6+ Kh8 26.Dxf6 (26.Dd5? Sxd6 27.Dxd6 Tfe8 28.Te1 Tad8 29.Dc6 Txe6 30.Dxe6 Dxe6 31.Txe6 Td1+ 32.Te1 Txe1#) 26...Txf6 27.Lxf5 Txf5 28.Td1² ist der Vorteil zwar klar, aber der Damentausch entlastet Schwarz, der nun gute Remischancen besitzt.] 23...Ta4?! [Wie schwer die Aufgabe von Schwarz ist, belegt die folgende plausible Variante, in der Weiß mit den kombinierten Drohungen gegen den Be6, auf g7 und dem Vorstoß des d-Bauern siegreich bleibt: 23...Sf5? 24.De5 Tfe8 25.d7 Te7 (25...Dxd7 26.Dxf5+-) 26.Td1 Td8 27.Dc7 Df8 (27...Texd7 28.Dxd8+ Txd8 29.Txd8+ Df8 30.Lxe6+ Kh8 31.Txf8#) 28.La3+-; Die Partie kann hier noch gehalten werden, indem Schwarz auch noch den zweiten Turm aktiviert: 23...Tfc8! 24.Dd3 Sc6 (Der Endspiel nach 24...Sf5 25.Te1 Txc4 26.Dxc4 Sxd6 27.Dxe6 Dxe6 28.Txe6 Tb8 29.Lc1 Tb1 30.Te1± ist sehr undankbar zu verteidigen.) 25.d7 Tcb8 26.De4 Sd8 27.Le5 Dxd7! (Schwarz gibt die Qualität für den Bd6 zurück und verbleibt mit Springer und schwachem Be6 gegen den Läufer. Das gleiche Ziel kann erreicht werden durch 27...Tb7 28.Lc7 Txc7 29.Dxa8 Txd7 30.Te1²) 28.Lxb8 Txb8 29.f4 Tc8 30.f5 Dc6 31.Tf4 Dxe4 (31...Db6+? 32.Kh1 Kh8 33.Tf1+-) 32.Txe4 Kf7 33.fxe6+ Ke7²] 24.Dd3 Tc8? [Ein schwerer Fehler. Die letzte Remischance war der Übergang zu der zuvor schon untersuchten Variante 24...Sf5 25.Te1 Txc4 (25...Se3 26.Lxe6 Dxe6 27.Txe3 Df7 28.Dd2±) 26.Dxc4 Sxd6 27.Dxe6 Dxe6 28.Txe6 Tb8 29.Lc1 Tb1 30.Te1±] 25.d7! Td8 [25...Dxd7 26.Dxd4 Dxd4 27.Lxe6+ Kf8 28.Lxd4+-] 26.Dxd4 Txd7 27.De4 Tc7 28.Tc1 Kf8 29.Dd3 Df4? 30.Dd8+ Kf7 31.Dxc7+ Dxc7 32.Lxe6+ Kxe6 33.Txc7 Kd6 34.Tc1 1-0

(4) Beispiel 1.5: Gerstner,W (2385) - Thiede,L (2350)
DHMM Stuttgart, 1995
[Gerstner]








1.Sg5! [Weiß hat klaren Vorteil: Die bessere Königsstellung, die aktiveren Figuren, die bessere Entwicklung, außerdem neigt der Be5 zur Schwäche. Der einzige schwarze Vorteil liegt im guten gegen den schlechten Läufer. Trotzdem kann sich dieser Vorteil verflüchtigen, wenn es Schwarz gelingt, mit Sb8-d7-f8 noch einen Verteidiger an den Königsflügel zu holen und anschließend mit Ta8-d8 den Abtausch der Schwerfiguren anzustreben. Um den Vorteil festzuhalten, ändert Weiß völlig den Charakter der Stellung und tauscht die vorhandenen gegen andere Vorteile ein. Leichter hat es Schwarz bei: 1.Dd2 Lxh3 2.Txh3 Sbd7²; 1.Td2 Sbd7 2.Sg5 Sf8²] 1...Dxd6 2.Sxh7 Kf7 [Die weiteren Züge sind erzwungen. Abweichungen führen sofort zum Verlust: 2...Sxh7? 3.Dxg6+ Kf8 4.Txh7+-; 2...De7? 3.Dxg6+ Dg7 4.Sxf6+ Kf8 5.Dxe8#] 3.Sg5+ Ke7 4.Dg7+ Kd8 5.Dxf6+ Kc7 [Schwarz muß die Dame decken, sonst geht er an der Fesselung des Le6 zugrunde: 5...Kc8 6.Dxg6 Te7 (6...Dd7 7.Th7 Te7 8.Txe7 Dxe7 9.Dxe6+ Dxe6 10.Sxe6+-) 7.Th6 A) 7...Kd7 8.Sxb5 cxb5 (8...Db4 9.c3 Dc5 10.Sxe6 De3+ 11.Kc2 Df2+ 12.Kb3+-) 9.Lxb5+ Sc6 (9...Kc8 10.Sxe6+-) 10.Sxe6 Dxe6 11.Lxc6+ Kxc6 12.Dxe6+ Txe6 13.Txe6+ Kd7 14.Txe5+-; B) 7...Dd4 8.Sxe6 Dg1 9.Df6 Dxf1+ 10.Sd1 Td7 11.Df8+ Kb7 12.Sc5+ Kc7 13.Sxd7+-] 6.Lxb5 Ld7 7.Dxd6+ Kxd6 8.Lc4± [Am Ende der Abwicklung ist Schwarz materiell leicht im Vorteil (Qualität gegen 2 Bauern), aber die weißen Figuren sind alle aktiv (während Schwarz noch nicht einmal vollständig entwickelt ist) und vor allem sind alle schwarzen Bauern isoliert und schwach. Auch wenn die technische Umsetzung nicht einfach ist, spielt doch nur Weiß auf Gewinn und wird diese Stellung ohne groben Fehler nicht mehr verlieren können.] *