Wann hat ein Angriff Aussicht auf Erfolg?


KSF-Training, Wolfgang Gerstner, 24.5.2002

(21) Beispiel 5.1: Capablanca,J - Steiner,H
New York, 1933

Wann soll man zum Angriff übergehen, wann soll man den Angriff unterlassen, wann muss man einen Angriff fürchten? Die Antwort auf diese wichtige Frage wurde schon im letzten Jahrhundert vom 1. Weltmeister Wilhelm Steinitz formuliert und Anfang dieses Jahrhunderts von Siegbert Tarrasch verfeinert: Erst müssen die Voraussetzungen geschaffen sein, erst muss man positionelle Vorteile anhäufen, ehe man zum Angriff übergehen sollte. Aus dem Nichts heraus scheitern die meisten Attacken. Die wichtigsten positionellen Kriterien sind Entwicklungsvorsprung (der in der Eröffnung durch unnötige Bauernzüge oder mehrmaliges Ziehen mit derselben Figur entsteht), Kontrolle des Zentrums (z.B. geschlossenes Zentrum im Königsindisch, Isolani beim Panov-Angriff), Beweglichkeit der Figuren (aktive / passive Aufstellung), Schwächen (Bauernzüge in der Rochade-Stellung, schwache Felder), die Königsstellung (Zentrum, offene Angriffslinien) und im Verhältnis Angreifer zu Verteidigern. In den folgenden Beispielen wird das Zusammenspiel dieser Kriterien beleuchtet.








9.Sh4! [Weiss besitzt das Läuferpaar, einen leichten Entwicklungsvorsprung und strebt mit f2-f4 eine Linienöffnung sowie das Eingreifen das Tf1 an. Erst wenn das gelingt, kann er auch erfolgreich angreifen. Nichts bringt 9.Lxf6? gxf6 10.Sh4 f5!=] 9...c6 10.Lc4 Le6? [Ein schwerer Fehler, denn dadurch werden entscheidende Felderschwächen geschaffen und die Königsstellung aufgerissen. Alternativen sind: 10...Sg6? 11.Sxg6 hxg6 12.f4 exf4 13.Txf4±; 10...Se8 11.f4 d5 12.Lb3 f6 13.fxe5!? fxg5 14.Txf8+ Kxf8 15.Df3+ Kg8 16.Tf1 Sc7 17.Df7+ Kh8 18.exd5 cxd5 19.Df8+ Dxf8 20.Txf8+ Sg8 21.Sf3÷; 10...d5 11.Lb3 Dd6 12.f4 dxe4 13.fxe5 Dxe5 14.Lxf6 gxf6 15.dxe4 Dxe4 16.Te1 Dxh4 17.Txe7²] 11.Lxf6 gxf6 12.Lxe6 fxe6 13.Dg4+! [Ein wichtiges Zwischenschach, das den König auf die f-Linie zwingt, was nach deren Öffnung schnell gewinnt. Nur leichten Vorteil ergibt 13.f4? Kh8 14.f5 exf5 15.Sxf5 Sxf5 16.Txf5 Tg8²] 13...Kf7 14.f4 Tg8 15.Dh5+ Kg7 16.fxe5 dxe5 [Schwarz hat keine Alternative, doch jetzt gerät er ins Kreuzfeuer aller weissen Steine 16...fxe5? 17.Tf7+ Kh8 18.Txh7#] 17.Txf6! Kxf6 18.Tf1+ Sf5 19.Sxf5! [Weiss begnügt sich nicht mit 19.exf5 Ke7 20.Dxh7+ Kd6 21.fxe6±] 19...exf5 20.Txf5+ Ke6 21.Df7+ Kd6 22.Tf6+ Kc5 23.Dxb7 Db6 24.Txc6+ Dxc6 25.Db4# 1-0

(22) Beispiel 5.2: Capablanca,J - Marshall,F
Moskau, 1925








Eine äusserst lehrreiche Partie: Der weisse Vorteil ist schon riesengroß, denn die schwarzen Figuren sind schlecht entwickelt, Weiss kontrolliert das Zentrum und besitzt die halboffene f-Linie. Vor allem befinden sich am Königsflügel nur 3 schwarze Figuren, während 6 weisse dorthin zielen. Capablanca zwingt mit dem folgenden Zug seinen Gegner zum Abtausch zweier Verteidiger, so dass die Übermacht noch deutlicher zum Tragen kommt: 14.h3! Sge5? [Schwarz hat den Bd3 als Schwäche ausgemacht, unterschätzt jedoch das weisse Angriffspotential. Einen schwierigen Verteidigungskampf hat er nach dem besseren 14...Sh6 15.g4 Sb4 (15...Se5 16.Se1 Sd7 17.Df2±) 16.g5 Lxc3 17.Lxc3 Sf5 (17...Dxa2 18.Dxa2 Sxa2 19.gxh6 Sxc1 20.Txc1 Txd3 21.Se5 Td6 22.hxg7±) 18.Tf2±] 15.Se4! Dxa2 [Die Stärke des weissen Angriffs aufgrund fehlender Verteidiger dokumentieren 15...Sxd3 16.Sxf6+ gxf6 17.Lxf6 Sxc1 18.Txc1 Td6 (18...Da3 19.Tf1 e5 20.Sg5 Td6 21.Dh5+-; 18...e5 19.Tf1 Le6 20.Sg5 Td2 21.Dh5 Txg2+ 22.Kxg2 Dd2+ 23.Tf2 Dd3 24.e4+-) 19.Sg5 e5 20.Se4 Txf6 21.Sxf6+ Kf8 22.Dh5 Dd2 23.Dh6+ Ke7 24.Sd5+ Kd7 25.Tf1+-; 15...Sxf3+ 16.Dxf3 Lxb2? 17.Dxf7+ Kh8 18.Df8+ Txf8 19.Txf8#] 16.Sxf6+ gxf6 17.Sxe5 Sxe5 [Im Matt endet 17...fxe5 18.Lxc6 bxc6 19.Dg4+ Kf8 20.Txf7+ Kxf7 21.Tf1+ Ke8 22.Dg8+ Ke7 23.Dg7+ Kd6 24.Lxe5#] 18.Le4!? [Bringt eine weitere Figur in den Angriff, so dass Schwarz Material opfert. Es gewann auch das direkte 18.Txf6 Sg6 (18...Txd3 19.Tc2 Dxb3 20.Lxe5+-; 18...Sxd3 19.Dg4+ Kh8 20.Txf7+ Dxb2 21.Dh4+-) 19.Tcf1 Tf8 20.h4+-] 18...Ld7 [18...f5 19.Ta1 Dxb3 20.Lxe5 fxe4 21.Dg4+ Kf8 22.Dg7+ Ke7 23.Dxf7#] 19.Ta1 Dxb3 20.Tfb1 [Es gewann auch 20.Lxe5 fxe5 21.Dg4+ Kf8 22.Txf7+ Kxf7 23.Dg5 Tf8 24.Lxh7 Lc6 25.Lg6+ Kg7 26.Lf5+ Kf7 27.Dg6+ Ke7 28.Dxe6+ Kd8 29.Dd6+ Ke8 30.Lg6+ Tf7 31.Tf1 Lf3 32.Dc7+-] 20...Db4 21.Lxe5 fxe5 22.Txb4 cxb4 23.Lxb7 Tab8 24.Txa7 1-0

(23) Beispiel 5.3: Colle,E - Capablanca,J
Karlsbad, 1929








Eine dynamisch schwierige Position mit einem geschwächten schwarzen Königsflügel, einem weissen Bauernzentrum, aber besserem schwarzen Figurenspiel. Weiss begeht nun den Fehler, zum Königsangriff überzugehen, obwohl die Lage im Zentrum nicht geklärt ist und Weiss ausser Turm und Dame keine Figuren für den Angriff heranholen kann. Folgerichtig bleibt der Angriff stecken, während Schwarz dem Gegner entscheidende Schwächen zufügt. 18.Th3? [Unterschätzt die Kraft des nächsten Zuges. Notwendig war das positionelle 18.Kh1 d5 19.e5 Se4 20.Le3÷] 18...Dc6! [Erzwingt den folgenden Bauernzug, wonach der Druck auf der langen Diagonalen den weissen Angriff neutralisiert. Viel schwächer ist 18...d5? 19.e5 Se4 20.Le3 f6 21.Dg4 fxe5 (21...f5 22.Dh4 Tf7 23.g4) 22.fxe5 Lxd4 23.Lxd4 Tf5²] 19.e5 Sd5 20.Df2 [Weiss hält an seinem Königsangriff fest, der aber leicht abgewehrt wird. Besser war deshalb 20.Le3 Lxd4 21.cxd4 Tac8 22.Tc1 Sxe3 23.Txe3 Dc4÷] 20...Lxd4 21.cxd4 Tac8! 22.Ld1 [Weiss hat keine Alternative und muss sein stolzes Läuferpaar deaktivieren: 22.Ld3? Dxc1+ 23.Txc1 Txc1+ 24.Lf1 La6 25.g4 Txf1+ 26.Dxf1 Lxf1 27.Kxf1 Tc8-+; 22.Dh4? Sf6! 23.Df2 Dxc2 24.exf6 Dxc1+ 25.Txc1 Txc1+ 26.Df1 Txf1+ 27.Kxf1 Tc8-+] 22...f6 23.Dh4? [Danach erhält Weiss eine tödliche Bauernschwäche. Absolut notwendig war die Aufgabe des Angriffs und die Abwicklung in ein remisverdächtiges Endspiel mit 23.Ld2 A) Schwarz darf nicht übermütig werden: 23...Sxf4? 24.Lxf4 fxe5 25.Lf3 e4 26.Dh4 (26.Le2? e3 27.Txe3 Txf4-+) 26...Tf7 27.Lh5 e3 (27...gxh5? 28.Tg3+ Tg7 29.Txg7+ Kxg7 30.Lh6+ Kf7 31.Tf1+ Kg8 32.Dg5+ Kh8 33.Dg7#) 28.Lf3 Dc1+ 29.De1 Dxe1+ 30.Txe1 Txf4 31.Lxb7 Tc2 32.Thxe3 Txb2 33.T3e2 Txe2 34.Txe2 Txd4²; B) 23...fxe5 24.Tc1 Dd6 (Schlecht ist das Endspiel nach 24...Sxf4? 25.Txc6 Sxh3+ 26.gxh3 Txf2 27.Txc8+ Lxc8 28.Kxf2 exd4 29.Lf4±) 25.Txc8 Txc8 26.fxe5 De7÷] 23...Tf7 24.Lf3 Dc4 25.Le3 [Weiss kann die in einem Bauernverlust resultierende Abwicklung nicht vermeiden, denn der Rückzug kommt zu spät: 25.Df2? Dxc1+ 26.Txc1 Txc1+ 27.Df1 Txf1+ 28.Kxf1 La6+ 29.Kg1 Sxf4-+] 25...Sxe3 26.Lxb7 Sf5! 27.De1 [27.Df2 Dc1+ 28.De1 Dxe1+ 29.Txe1 Tc7 30.Le4 Sxd4µ] 27...Tc7 28.Le4 Dxd4+ 29.Kh1 fxe5 30.Lxf5 exf5 31.fxe5 Te7 32.Te3 Dxb2 33.e6 dxe6 34.Txe6 Kf7 0-1

(24) Beispiel 5.4: Letelier,M - Fischer,B [E70]
Leipzig, 1960

In der folgenden Partie greift Weiss im Zentrum an ohne richtig entwickelt zu sein. Der König verbleibt im Zentrum. Schwarz hingegen setzt konsequent auf Entwicklung und kommt über die offenen Linien des zerstörten Zentrums zum Gegenangriff: 1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 0-0 5.e5? [Weiss träumt von einem mächtigen Bauernzentrum, welches ihm einen starken Angriff verspricht. Unter Bauernopfer wird es jedoch schnell gesprengt. Besser waren die üblichen Varianten, z.B. 5.Sf3 ] 5...Se8 6.f4 d6 7.Le3








7...c5! [Zerlegt das Bauernzentrum. Dies gelingt nicht bei weniger aggressiven Fortsetzungen wie 7...dxe5? 8.dxe5 Dxd1+ 9.Txd1±] 8.dxc5 Sc6 9.cxd6 exd6 10.Se4 Lf5! [Mit jedem Zug eine Figur entwickeln, und auch der Damentausch wird nicht gescheut! Material verliert stattdessen 10...dxe5? 11.Dxd8 Sxd8 12.Lc5 exf4 13.Lxf8 Kxf8 14.Td1±] 11.Sg3 [Weiss hat schon keine gute Alternative mehr. Den Bauern unter Damentausch zurückzugeben führt in ein schlechtes Endspiel: 11.Sxd6 Sxd6 12.Dxd6 Dxd6 13.exd6 Lxb2 14.Td1 Sb4 15.Kf2 Sxa2 16.Se2 a5µ] 11...Le6 12.Sf3 Dc7 13.Db1 [Weiss träumt immer noch von einem Angriff, kommt aber vom Regen in die Traufe 13.Le2 dxe5 14.Lc5 Da5+ 15.b4 Sxb4 16.Lxf8 Kxf8 17.0-0 exf4-+; 13.Dc2 dxe5 14.f5 gxf5 15.Sxf5 Sb4 16.Db3 Lxf5 17.Dxb4 Sf6µ] 13...dxe5 14.f5 e4! 15.fxe6 [Trostlos ist auch 15.Dxe4 gxf5 16.Dh4 (16.Sxf5? Da5+ 17.Ld2 Dxf5-+) 16...Lxb2 17.Td1 Sb4µ] 15...exf3 16.gxf3








16...f5! [Schwarz will die e-Linie für seine Türme offen halten und droht mit f5-f4. Der Be6 läuft nicht davon. Eine Atempause erhält Weiss bei 16...fxe6 17.f4µ] 17.f4 Sf6 18.Le2 Tfe8 19.Kf2 Txe6 20.Te1 Tae8 21.Lf3








[Die Stellung ist nicht mehr verteidigungsfähig: 6 Angreifer gegen einen von 4 Verteidigern umgebenen König, der ohne Bauernschutz auskommen muss, dazu die zahlreiche Felder- und Bauernschwächen. Der Zug ermöglicht ein schönes Finale, aber auch die Alternativen lassen Weiss kaum länger überleben: 21.Ld2 Sd4 22.Dc1 Sxe2 23.Txe2 Sg4+ 24.Kf1 Txe2 25.Sxe2 Dc6 26.Sg1 Ld4-+] 21...Txe3! 22.Txe3 Txe3 23.Kxe3 Dxf4+! [23...Dxf4+ 24.Kxf4 (24.Kf2 Sg4+ 25.Kg2 Se3+ 26.Kf2 Sd4 27.Dh1 Sg4+ 28.Kf1 Sxf3-+) 24...Lh6#] 0-1